Kurzer geschichtlicher Überblick über die anarchistische Bewegung in Japan.

Wurzeln des japanischen Anarchismus

In den ostasiatischen kulturellen und politischen Traditionen gab es anarchistische Elemente im weitesten Sinne des Wortes, so z.B. auch in einigen Lehren des Urbuddhismus, des Taoismus und besonders in den Gedanken Tsung-tsus. Auch im vormodernen Japan finden sich Spuren des Anarchismus.
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Einige Forscher weisen auf Shoeki Ando (1703-1762) hin, der eine Art agrarischen Kommunismus lehrte. Der moderne Anarchismus entstand aber erst mit der japanischen Modernisierung Ende des 19. Jahrhunderts und bezog seine Theorien anfänglich aus Europa. Wie andere Ideen- und Sozialbewegungen im modernen Japan schwankte er daher zwischen der blinden Übernahme der ausländischen Theorien und deren ebenso blinden Ablehnung. Es gab aber auch die kritische Anpassung an die japanischen Verhältnisse.

Shusui Kotoku und die Anfänge des modernen japanischen Anarchismus

Vor 1906 sammelten sich in der sozialistischen Bewegung Japans verschiedene Strömungen ohne Zwiespalt. So verkaufte z.B. eine sozialistische Organisation in Tokio Ansichtskarten mit den Porträts der europäischen Sozialisten Karl Marx, Friedrich Engels, August Bebel, Leo N. Tolstoi und Pjotr Krapotkin. Ein Kritiker spottete über diesen „Mischmasch“.
Diese Organisation nannte sich „Heimin-sha“ (Plebejischer Verein); sie war vor 1906 die führende sozialistische Organisation in Tokio. 1903, kurz vor dem Ausbruch des russisch-japanischen Krieges, wurde „Heimin-sha“ von verschiedenen Gruppen der japanischen Sozialisten als antimilitaristische Kampforganisation gegen die Kriegsbefürworter gegründet. Aber nach dem Krieg brach in „Heimin-sha“ ein Streit zwischen zwei Richtungen, der parlamentarischen oder sozialdemokratischen und dem „Direkte-Aktion-Flügel“ bzw. der anarchistischen Richtung, aus und endete mit der Auflösung von „Heimin-sha“.
Einer der Führer der anarchistischen Richtung war Shusui Kotoku (1871-1911), der, zuvor marxistischer Journalist, mit anderen Sozialisten „Heimin-sha“ gegründet hatte. Während einer Gefängnishaft, in der er P. Kropotkins „Landwirtschaft, Industrie und Handwerk“ las, wandte er sich dem Anarchismus zu. Noch wichtigere Anlässe für seine Hinwendung zum Anarchismus waren aber die damalige brutale Unterdrückungspolitik der gesamten Linken durch die japanische Regierung und die Russische Revolution von 1905.
Nach der Freilassung ging S. Kotoku nach San Francisco (USA), wo er sich mit Mitgliedern der - Industrial Workers of the World (IWW) und Exilanten der russischen „Sozialrevolutionären Partei" anfreundete. Durch diese persönlichen Kontakte beschleunigte sich seine Wandlung; aber auch ein anderes Ereignis trug noch dazu bei: S. Kotoku erlebte die gegenseitige Hilfe der Bürger nach dem Erdbeben in San Francisco 1906. Er beschrieb diese Gegenseitigkeit als „Anarchist Communism“.
Nach seiner Heimkehr verkündete S. Kotoku auf einer Versammlung in Tokio 1906, dass die sozialistischen Bewegungen in den meisten Ländern immer weniger den parlamentarischen Weg gingen, sondern den der "Direkten Aktion" und er selbst hätte sich vom Marxismus zum Anarchismus bekehrt. Diese Rede war der entscheidende Anlass zur Spaltung der sozialistischen Bewegung Japans in Marxisten und Anarchisten.
Es gab aber auch innerhalb der marxistischen Richtung zwei Flügel: Der parlamentarische Flügel gründete später die sozialdemokratische und der antiparlamentarische Flügel die kommunistische Partei. Aber auch in der anarchistischen Richtung bildeten sich zwei Flügel: zum einen der Syndikalismus der Gewerkschaftsorientierten und zum anderen der der Anhänger der „Direkten Aktion“, die den Kommunistischen Anarchismus befürworteten.
Unter den damaligen gesetzlichen Verhältnissen hatten die japanischen Anarchisten keine Alternative, als sich in den Untergrund zurückzuziehen. Darüber hinaus wurden 1908 nach der „Rote-Fahne-Affäre“, einem Zusammenstoß demonstrierenden Sozialisten mit der Polizei, die meisten Sozialisten in Tokio verhaftet.
Damals übersetzte S. Kotoku in seiner Heimatstadt Kochi (Insel Shikoku) P. Kropotkins „Die Eroberung des Brotes“. Das 1909 gedruckte Werk zirkulierte wie eine heilige Schrift unter den Anarchisten. Es gab Anarchisten, die die terroristische Aktion als Taktik übernahmen, da sie in der damaligen Lage weder für eine propagandistische noch für eine gewerkschaftliche Tätigkeit Möglichkeiten sahen. Dabei scheint auch Sentaro Kernuyamas „Kinsei Museifu-shugi“ (Der moderne Anarchismus) von 1902, das als erstes Buch über den europäischen Anarchismus informierte, eine Rolle gespielt zu haben. Denn es stellte größtenteils die Geschichte des Terrorismus der russischen Sozialrevolutionäre dar. Es stiftete wahrscheinlich nicht nur terminologische, sondern auch begriffliche Verwirrung unter den japanischen Sozialisten. Die meisten Leser mussten folgern, dass ein Anarchist Terrorist sein müsste, da die Beschreibung des Attentats auf Zar Alexander II. die japanischen Sozialisten tief beeindruckte.
So entschlossen sich einige Anarchisten nach dem russischen Vorbild, den Tenno (Japans Kaiser), den die damalige Verfassung als „heilig und unantastbar“ bestimmte, zu töten. Suga Kanno (1881-1911), S. Kotokus Geliebte, die Mitglied der terroristischen Gruppe war, dachte sich eine Rolle wie Sofia Perovskaja bei dem Zar-Attentat aus. Dagegen hielt S. Kotoku damals eine langfristige Propaganda für richtiger. S. Kanno informierte ihn kaum über ihren Attentatsplan, weil sie ihren Geliebten, der ja auch den japanischen Anarchismus führte, nicht in Gefahr bringen wollte. Nachdem die Polizei den Plan entdeckt hatte, nutzte diese die Gelegenheit, um alle Sozialisten zu verhaften und die ganze sozialistische Bewegung zu unterdrücken. Nach einem Hochverratsprozess wurden S. Kotoku und elf weitere Angeklagte, obwohl die meisten keine Verbindung zum Attentatsplan hatten, 1911 hingerichtet.

Sakae Osugi und der Streit zwischen den Anarchisten und Bolschewisten

Nach dem „Winter des japanischen Sozialismus“ von 1910 bis 1912 kam der neue „Frühling" mit Sakae Osugi (1885-1923).
Der Sohn eines Offiziers wurde wegen „Auflehnung“ von einer Militärschule gewiesen. Danach übersetzte er für „Heimin-sha“ ausländische Zeitschriften; er hatte Englisch und Französisch auf der Militärschule gelernt. Schon damals wurde er als Nachfolger S. Kotokus angesehen. Während der Hochverratsaffäre war S. Osugi zum Glück im Gefängnis (wo er noch mehr europäische Sprachen lernte).
Anders als S. Kotoku, der nur Englisch verstand, lernte S. Osugi die Theorien der europäischen Anarchisten, besonders von P. Kropotkin und Michail Bakunin, im Original kennen. Als S. Osugi wegen der „Rote-Fahne-Affäre“ im Gefängnis saß, überdachte er seine bisherige Politik. In seinen „Erinnerungen“ (1923) schrieb er, dass er seine früher eifrig studierten Theorien des europäischen Anarchismus beiseitelegte und mit der radikalen Umgestaltung seines eigenen Bewusstsein begann. Für ihn waren jene Ideen „Importware“ aus Europa. Durch seine Teilnahme an der politischen Bewegung spürte S. Osugi am eigenen Leib, dass unkritisch importierte Ideen für die japanische Bewegung nicht nur nutzlos waren, sondern deren selbständige Entwicklung behinderten. Der europäische Anarchismus, Syndikalismus, Sozialdemokratismus, Gildensozialismus oder Bolschewismus waren von den europäischen Revolutionären und Arbeitern in ihren politischen Bewegungen erdacht und formuliert worden – in großer Entfernung von der japanischen politisch-sozialen Realität.
Die japanischen Anarchisten müssten deshalb, dieser Realität angemessen, durch ihre politische Bewegung eine eigene, japanische Theorie entwickeln. S. Osugi verglich die Arbeiterbewegung mit einem leeren Buch, in dem die politischen Bewegungen der Arbeiter eine Seite nach der anderen füllen müssten und nannte diese Gedanken „Hakushi-shugi“ (Tabula rasa-ismus).
Nach dem „Winter“ kam ein Aufschwung der gewerkschaftlichen Bewegung, an der sich S. Osugi und andere Vertreter der neuen Generation des japanischen Anarchismus aktiv beteiligten. Die Anarchisten schufen die revolutionäre Gewerkschaft „Kumiai Domei“ (Bund der Gewerkschaften), welche die ökonomische „Direkte Aktion“ als Taktik annahm und gegen die Bewegung für das allgemeine Wahlrecht kämpfte. Trotzdem die Mitgliederzahl von „Kumiai Domei“ viel geringer als die der größeren reformistischen Gewerkschaft war, zog die radikale und kompromisslose Kampfweise von „Kumiai Domei“ solche Arbeiter an, die mit den meisten Gewerkschaftsführern unzufrieden waren, weil diese sich mit Unternehmern kompromittierten.
Die Revolutionierung der japanischen Gewerkschaftsbewegung wurde andererseits durch die Russische Revolution von 1917 beschleunigt. Wie die Revolution 1905 großen Einfluss auf S. Kotoku und seine Generation ausübte, gab die von 1917 der neuen Generation starke Anstöße. S. Osugi sympathisierte mit der Russischen Revolution, weil er erwartete, dass sie die japanische voranbringen würde. Er war der erste japanische Sozialist, der mit der Komintern Kontakt aufnahm, und er versuchte sogar, eine Einheitsfront mit den Bolschewisten herzustellen. Denn S. Osugi hatte sich die japanische Revolution zum obersten Ziel gesetzt und verachtete den anarchistischen Doktrinarismus, der auf antiautoritären Ideen fußte.
Nachdem er aber die Realität in Rußland kennengelernt und den Versuch der japanischen Bolschewisten, die Einheitsfront zu dominieren, erlebt hatte, überdachte er seinen Standpunkt. Auch. andere Anarchisten kritisierten, dass die Bildung einer Einheitsfront mit den Bolschewisten ein fundamentaler Fehler gewesen sei. Zudem begann in Japan nach der Russischen Revolution ein heftiger und langdauernder ideologischer Streit zwischen Bolschewisten und Anarchisten, der sich nicht nur unter Sozialisten und Arbeitern, sondern auch unter Schriftstellern, Künstlern und sogar Feministinnen ausweitete. Beide Seiten verwandten in dieser Auseinandersetzung importierte Ideen. Sogar S. Osugi führte wieder Ideen des europäischen Anarchismus, die er einmal abgelegt hatte, vor allem von P. Kropotkin, ins Feld.
Als 1922 alle Richtungen der Gewerkschaften sich zu vereinigen suchten, kam es zu einer scharfen Kontroverse um die Organisationsweise zwischen der Mehrheit, die eine sozialdemokratisch und bolschewistisch ausgerichtete Gewerkschaft bilden wollte und der syndikalistischen Minderheit, die sich in der „Kumiai Domei“ gesammelt hatte. Die erste vertrat das zentralistische Organisationsprinzip, die letztere dagegen den freien Föderalismus.
Einer der Führer der Zentralisten, Hitoshi Yamakawa (1880-1958), rechtfertigte die Vorherrschaft der Kommunistischen Partei in den Gewerkschaften damit, dass die KP als „fortgeschrittene Avantgarde“ die „rückständige Masse“ führen müsste. Dagegen behauptete S. Osugi, einer der Befürworter des freien Föderalismus, dass die „fortgeschrittene Masse“ bisher in der Praxis große Erfolge errungen hätte, wogegen die „rückständigen Intellektuellen“ wegen ihres Autoritarismus und blinden Glaubens an die Theorie gefährlich wären.
In dieser Zeit kritisierte S. Osugi die Russische Revolution in seinem Buch „Die russische Revolution im Spiegel des Anarchismus“ (1922). Seine Kritik gründete S. Osugi zumeist auf Informationen aus ausländischen anarchistischen Zeitschriften, z. B. der Londoner „Freedom“ oder der Pariser „Temps Nouveaux“, aber aus Antidoktrinarismus las er daneben auch Zeitschriften der Komintern.
Da er aber lieber die Situation in Rußland persönlich kennenlernen wollte, entschloss er sich, als der französische Anarchist André Colomer ihn zu einem geplanten anarchistischen Kongress in Berlin 1923 einlud, aus Japan zu „fliehen“. Er konnte Japan nur heimlich verlassen, weil er unter polizeilicher Aufsicht stand. Im Februar 1923 erreichte er Paris und blieb in Frankreich wegen der mehrmaligen Verschiebung des Kongresses. Nach einer Rede am l. Mai vor Arbeitern in Saint-Denis über den „l. Mai in Japan“ wurde er verhaftet und nach Japan abgeschoben.
S. Osugi wollte in Europa auch die ukrainische Machno-Bewegung studieren, weil er in ihr eine positive Frucht der Russischen Revolution sah. Er kritisierte an den russischen Anarchisten, dass sie doktrinär die Machno-Bewegung verwarfen. Aber mitten in seinem Kampf gegen den Dogmatismus wurde er nach dem großen Tokio-Erdbeben 1923 mit seine Frau Noe lto (1895-1923), die auch Anarchistin war, und mit seinem jungen Neffen von der japanischen Militärpolizei ermordet.
Nach dem Tode S. Osugis, der eine führende Rolle gespielt hatte, und unter dem wachsenden Einfluss der Bolschewisten wurden die Anarchisten in Japan zurückgedrängt. Überdies tobte ein Streit zwischen den Syndikalisten und den „reinen“ oder kommunistischen Anarchisten. Hinzu kam noch, dass 1935 auch zwei radikale Anarchistenverbände unterdrückt wurden: die „Anarchistische Kommunistische Partei“ und der „Junge Bauernbund“. Beide hatten gleichzeitig bewaffnete Aufstände geplant. Danach verfiel die ganze anarchistische Bewegung in Japan.

Sanshiro Ishikawa und der Einfluss des französischen Anarchismus

Wie schon ausgeführt, gab es im japanischen Anarchismus drei Strömungen: l. den kommunistischen Anarchismus Kropotkinscher Richtung; 2. den Syndikalismus; 3. den Terrorismus. Den letzteren übernahmen die japanischen Anarchisten nicht von den westeuropäischen „Propaganda der Tat“-Aktivisten, sondern hauptsächlich aus der Geschichte der russischen Narodniki. Dagegen richteten sich die ersten zwei Strömungen nach französischen Vorbildern aus. Obwohl die japanischen Anarchisten nicht viel über Pierre-Joseph Proudhon außer Schlagwörtern wie „Eigentum ist Diebstahl“ wussten, hielten sie Frankreich für die Heimat des Anarchismus.
Diese Illusion rührte wahrscheinlich daher, dass ihre Führer in engen persönlichen Beziehungen mit französischen Anarchisten standen. Die meisten europäischen Anarchisten, mit denen S. Osugi Kontakt hatte, waren Franzosen, und Sanshiro Ishikawa (1876-1959) ging nach Frankreich ins Exil, als er nach dem Hochverratsprozess gegen S. Kotoku und anderen um sein Leben fürchtete. Er wohnte bei dem belgischen Anarchisten Paul Reclus, dem NeffenElisée Reclus'. Da S. Ishikawa die Gedanken Edward Carpenters anzogen, fuhr er nach England, um den englischen Sozialisten und Dichter zu treffen.
1916 befürwortete S. Ishikawa mit fünfzehn Anarchisten, u.a. P. Kropotkin und Jean Grave, den Krieg der Entente gegen Deutschland. Dies widersprach dem früheren Standpunkt S. Ishikawas als Pazifisten, christlichen Sozialisten und Mitglieds von „Heimin-sha“. S. Ishikawa rechtfertigte seine Position damit, dass dies der Realismus angesichts der deutschen Besetzung eines Teils Frankreichs erforderte und andernfalls der deutsche Militarismus noch stärker würde.
Aus dem achtjährigen Exil in Europa brachte S. Ishikawa nach J. seine eigene Theorie, „Domin Seikatsu“, mit. Damals bestand zwar eine lebendige sozialistische Bewegung in Japan, aber S. Ishikawa sah in ihrer Lenin-Verehrung nur eine Mode, weit von der politischen Realität entfernt. Weil daraus keine echte anarchistische Bewegung entstehen konnte, propagierte S. Ishikawa seine eigene Theorie.
Er nahm Gedanken von E. Carpenter auf und behauptete, dass „Domin Seikatsu“ die wahre Demokratie darstelle. Nach E. Carpenter bedeutete das Wort „Demos“ eigentlich die Menschen, deren Leben die Erde wäre. S. Ishikawa übersetzte deshalb „Demos“ ins japanische als „Domin“: „Do“ bedeutet Erde, „Min“ – Menschen; „Domin“ bedeutet also Bauern oder Menschen, die zur Erde eine enge Beziehung haben. Aber S. Ishikawa gab dem Wort eine andere Bedeutung, nämlich: Bauern, die im mittelalterlichen Japan „Domin“ genannt wurden, wenn sie sich gegen ihre Herren empörten. Mit dieser Definition betonte S. Ishikawa seinen Abstand zum Agrarfaschismus, der die paternalistische Herrschaft in den japanischen Dörfern idealisierte. Andererseits bedeutet das Wort „Seikatsu“ Leben oder Alltagsleben. S. Ishikawa kritisierte, dass die meisten „isten“, einschließlich der „Demokratisten“, in Japan nicht aufgrund der japanischen Realität, insbesondere nicht ihres eigenen Alltagslebens, dächten. Daher übersetzte S. Ishikawa englisch „cracy“ als „Leben“ und meinte, dass „Domin Seikatsu“, d.h. das Leben in agrarischen autonomen Kommunen, die echte Demokratie verwirklichen würde.
Wie E. Carpenter lebte er selbst nach diesem Programm in der Umgebung von Tokio, weil er dachte, dass nicht die unzuverlässigen großstädtischen Arbeiter, sondern die selbständige Kommune der Bauern (Domin) der Hauptfaktor der echten Emanzipationsbewegung sein müsste.
Der Standpunkt S. Ishikawas unterschied sich also von dem der großstädtischen Syndikalisten. Aber in dem Streit zwischen den „reinen Anarchisten“ und den Syndikalisten unterstützte S. Ishikawa die letzteren, weil er ihren Realismus dem engstirnigen „reinen“ Anarchismus vorzog.
Heute kann man in S. Ishikawa nicht nur einen Vorläufer der Ökologie sehen, sondern auch einen Erneuerer des traditionellen agrarischen Kommunismus, den schon im 18. Jahrhundert Ando Shoeki entwickelte. S. Ishikawa wurde allerdings von den Gedanken westeuropäischer Anarchisten, zuerst E. Carpenters, dann E. Reclus’, beeinflusst. Er übersetzte einen Teil von E. Reclus’ „Homme et la Terre“. S. Ishikawa erhielt sogar die ganze Bibliothek E. Reclus’, aber das Feuer des Erdbebens 1923 in Tokio verwandelte die Bibliothek in Asche.

Jun Tsuji und der Einfluss Max Stirners

Im Unterschied zu ihren engen Beziehungen zu den französischen Gesinnungsgenossen hatten die japanischen Anarchisten nur wenige Kenntnisse vom deutschen Anarchismus, obgleich der japanische Marxismus in engem Zusammenhang mit dem deutschen Marxismus stand. Dennoch gibt es drei deutsche Bücher, die starken Einfluss auf den japanischen Anarchismus ausübten: „Der Anarchismus“ von Paul Eltzbacher, „Der Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin“ von Max Nettlau und „Der Einzige und sein Eigentum“ von Max Stirner.
Die Übersetzung des „Anarchismus“ von P. Eltzbacher erschien 1921. Aber damals strich die strenge Zensur alle „gefährlichen“ Wörter, so dass die Übersetzung teilweise unverständlich war. Trotzdem gewann sie manche Leser, da in Japan keine andere allgemeine Darstellung des Anarchismus erhältlich war. Dagegen fand M. Nettlaus Buch, 1927 unter dem Titel „Die Ideengeschichte des Anarchismus“ veröffentlicht, nicht so viel Aufmerksamkeit, wahrscheinlich wegen der komplizierten Darstellung oder des schwierigen Stils des Übersetzers.
Einflussreicher war „Der Einzige und sein Eigentum“ von M. Stirner, der in Japan im vorerwähnten Buch von S. Kemuyama als Begründer des Individualistischen Anarchismus vorgestellt wurde. Auch P. Eltzbacher kategorisierte M. Stirner als individualistischen Anarchisten. Aber in Japan wurde das Werk von M. Stirner nicht als individualistisch aufgefasst.
S. Osugi hatte sich einmal, unter dem Einfluss M. Stirners und bevor er sich der Arbeiterbewegung anschloss, einen „sozialen Individualisten“ genannt. Damit wollte S. Osugi, gegen den ökonomischen Determinismus der japanischen Marxisten, die Rolle der Individuen in der Geschichte betonen. Deshalb schätzte S. Osugi die Philosophie von Friedrich Nietzsche und M. Stirner als „Religion der Macht“.
Jun Tsuji (1884-1944) war der repräsentative „Stirnerianer“ in Japan. Englischlehrer an einer Mädchenschule (zufälligerweise wie M. Stirner), wurde er nach einer Liebesaffäre mit einer Schülerin, N. Ito, entlassen. Seine Geliebte, die wie Emma Goldman in den USA ihre Rolle in Japan spielen wollte, nahm an der Frauenbewegung teil, sie wurde später die Geliebte S. Osugis.
Im Gegensatz zu S. Osugi zog sich aber J. Tsuji „aus der Welt“ zurück, nachdem er durch die Trennung von N. Ito einen tiefen Schock erlitten hatte. Damals stieß er auf die englische Übersetzung von „Der Einzige und sein Eigentum“ und übersetzte es unter dem Titel „Jigakyo“ (Sutra des Egos) ins Japanische. Nach dieser Veröffentlichung 1921 kamen noch drei Übersetzungen, zwei 1929 und eine 1969; alle aber direkt aus dem Deutschen.
J. Tsuji nahm die Idee M. Stirners als Nihilismus auf, nicht wie Osugi, der mit dem Individualismus sympathisierte. J. Tsuji nannte sich einen „Teijin“ (Untermensch) im Gegensatz zum „Übermenschen“. Er demonstrierte mit einem Wortspiel, dass er nicht zur „Kyosan-to“ (Kommunistische Partei), sondern zur „Kosan-to“, d.h. „Ergebungspartei“, gehörte (ein antisozialistischer Scherz, in dem ein Erbe der Edo-Kultur des vormodernen Japans zu erkennen ist).
Die Anhänger J. Tsujis waren mehr oder weniger an ihrem Leben verzweifelt und verehrten ihn wie einen Religionsstifter. Sie bewunderten die Persönlichkeit und die „Verkündigungen“ J. Tsujis, der mit Alkoholismus und Liebesaffären Verzweiflung und Nihilismus vorlebte. J. Tsuji und seine Anhänger wurden als „Kyomu-shiso-ha“ (Nihilisten-Gruppe) angesehen, und unter ihnen gab es auch einige, die sich „Dadaisten“ nannten. J. Tsuji lebte stets wie ein Bettelmönch oder Halbvagabund, bis er kurz vor Ende des II. Weltkrieges einsam starb, wie M. Stirner etwa hundert Jahre vor ihm einsam in Berlin gestorben war. J. Tsuji war kein guter „Lehrer“ der Ideen M. Stirners, aber er lebte und starb wie M. Stirner.

Masamichi Osawa
(Übersetzt und bearbeitet von Hikaru Tanaka und Rainer Habermeier)